1991 hatten die weltbekannten Tschechischen Philharmoniker den Deutschen Gerd Albrecht mehrheitlich zum neuen Chefdirigenten gewählt. Schon damals war er skeptisch und meinte : “Seid ihr wahnsinnig, euch ausgerechnet einen Deutschen auszugucken”.
Noch nie in der hundertjährigen Geschichte hatte ein Nicht-Tscheche das Orchester geleitet, das seit jeher als das Nationalheiligtum an der Moldau gilt. Albrecht nahm die Wahl an, nicht zuletzt weil Tschechen wie Antonin Dvorak und Leos Janacek zu seinen Lieblingskomponisten gehören. Daß Albrecht sich für den schwierigen Posten an der Moldau entschied, hatte aber auch einen politischen Grund, er wollte Schuld abtragen, “die Deutsche gegenüber Tschechen in der Vergangenheit auf sich geladen haben”.
Von den Philharmonikern, die seine Interpretationskunst schätzen, wird er heute respektvoll “Pan Dvorak” genannt. Wenn seine künstlerische Leistung auch unanfechtbar ist, so hat er sein politisches Ziel verfehlt. Dem deutschen Chefdirigenten wurde vom tschechischen Kulturminister die künstlerische Kompetenz für das Orchester entzogen. Grund dafür sind die jüngsten Artikel zweier deutscher Nachrichtenmagazine, in denen Albrecht als Opfer tschechischer Nationalisten dargestellt worden war. Albrecht hat sich in einer Pressekonferenz von diesen Artikeln distanziert, und protestierte außerdem in einem offenen Brief an eines der Magazine gegen die dort abgedruckten Behauptungen. Seine Gegendarstellungen kamen offensichtlich zu spät, denn die demonstrative Abwesenheit von Tschechiens Präsident Vaclav Havel und Premier Vaclav Klaus beim Jubiläumskonzert der Philharmonie kündigten bereits seine letzten Stunden an der Moldau an. Seit Beginn seiner Amtszeit im Jahre 1993 war er auf teilweise eisige Ablehnung gestoßen. Das ehemalige KP-Organ “Rude pravo” unterstellte ihm sogar die Unterschlagung von Tournee-Honoraren, fälschlicherweise wohlgemerkt. Dabei ist Albrecht sicherlich nicht des Geldes wegen an die Moldau gezogen, denn seine dortige Jahresgage beläuft sich auf vergleichsweise lächerliche 24 000 DM.
Präsident Havel wünschte der Philharmonie zum Geburtstag einen “Sieg der Harmonie über die Kakophonie”. Die Wünsche reichten sicherlich nicht bis in die Garderobe des deutschen Dirigenten, dessen Fall exemplarisch für das verkrampfte Verhältnis zwischen den Nachbarländern steht.
ausgucken : (hier) uitzoeken, die Behauptung : bewering, das Gastspiel : gastvoorstelling, die Gegendarstellung : rechtzetting, unanfechtbar : onbetwistbaar.
Musik und Politik : Kakophonie.