Weimar ist hauptsächlich als “Stadt der deutschen Klassik” bekannt. In der Kleinstadt des Bundeslandes Thüringen wirkten Luther, Cranach und Bach. Im 18. Jahrhundert zog es dann die Dichter Wieland, Goethe, Herder und Schiller in die Stadt. Auch Musiker Franz Liszt ließ sich im 19. Jahrhundert von dem Städtchen inspirieren. Im 20. Jahrhundert wurde der kreative Prozeß von den Bauhaus-Künstlern fortgesetzt. Auch Architekt Henry van de Velde war in Weimar tätig. Er zeichnete die Pläne für das 1904 errichtete Hauptgebäude der Bauhaus-Universität. Damit ist die Geschichte der “klassischen” deutschen Stadt jedoch noch nicht zu Ende. Für Adolf Hitler war Weimar nämlich die deutsche Stadt schlechthin. Kein Wunder also, daß Weimar schon sehr schnell “judenfrei” wurde. Am Rande der Stadt, die so viele Freidenker beherbergt hatte, bauten die Nazis 1937 das Konzentrationslager Buchenwald. Auf dem Lagergelände wurden bis April 1945 mehr als 50.000 Menschen ermordet.

Ende des 20. Jahrhunderts macht die Stadt wieder von sich reden, sie ist europäische Kulturstadt 1999. Dafür wird sie jetzt schon seit einigen Jahren von Grund auf renoviert. Auch Goethes Gartenhaus, in dem er von 1776 bis 1782 wohnte, wurde überholt. Mindestens sechs Restaurierungen hat das Gemäuer schon hinter sich, dabei wurde jedesmal die komplette Inneneinrichtung umgestaltet. Das Urbild des “deutschen Hauses”, wie konservative Architekten frohlocken, hat heute ein Betonfundament, und in Goethes Räumen sind selbstverständlich auch die in allen deutschen Wohnzimmern anzutreffenden Trockensträuße zu Hause.

Da man sich in der europäischen Kulturstadt mit deutschem Pragmatismus überlegte, wie das Gartenhaus die zu erwartenden Besucherströme aufnehmen könne, kam man sehr schnell zu der Erkenntnis: Ein zweites Gartenhaus muß her. Es wurde nicht lange gezögert, und Goethes Gartenhaus wurde geklont. Nur hundert Meter vom Original entfernt wurde eine exakte Kopie vom Wohnsitz des Dichters gebaut. Unzählige Handwerker waren damit beschäftigt, alles aus dem Haus “originalgetreu” zu kopieren – Flecken, Kratzer und Benutzungsspuren inklusive.

Die Weimarer sind scheinbar stolz auf ihr geklontes Goethe-Gartenhaus, immerhin weiß die Lokalpresse zu berichten, daß 68 Prozent der Einwohner für das spektakuläre Projekt sind. In der ersten Woche nach der Eröffnung besuchten mehr als viertausend Touristen die Fälschung.

Die Meinungen der Besucher sind geteilt. “Am liebsten noch weitere 15 Gartenhäuser”, wünscht sich eine Besucherin. “Geldverschwendung”, “Disneyland” und “Irrsinn” schreiben die anderen ins Gästebuch. Um Irrsinn handelt es sich bei der Gartenhausklonerei nicht, denn die Kopie wurde aus 73 auseinandernehmbaren Einzelteilen gebaut, damit sie “tourneefähig” bleibt. Japan, Amerika und die Stadt Frankfurt am Main haben bereits Interesse bekundet.

Vor Jahrzehnten ließ Andy Warhol den Dichter Goethe zur Popikone werden. In Deutschland hat man Warhols Konzept verstanden und auf Goethes Gartenhaus angewandt. Bei dem zweiten Gartenhaus von einer Kopie zu sprechen, wäre also ungerecht. Es ist ganz klar: Die Stadt Weimar hat sich zum Ende des 20. Jahrhundert ein Produkt der Popkultur geschenkt.

schlechthin: bij uitstek.

überholen (hier): opknappen.

Reageren op dit artikel kan u door een e-mail te sturen naar lezersbrieven@knack.be. Uw reactie wordt dan mogelijk meegenomen in het volgende nummer.

Partner Content